In jüngster Zeit häufen sich die Anfragen zum Thema "Gültige Verfassung". Die einen preferieren die Kaiserverfassung von 1871, die anderen meinen, die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 sei die gültige Verfassung der Deutschen.
Der Präsident der Akademie für Rechtsphilosophie und Rechtsethik bringt Licht ins Dunkel. Hören Sie selbst:
Auszug aus dem Kommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 von Gerhard Anschütz aus dem Jahr 1930 – bezüglich Art. 4:
7. Soweit Art. 45 Abs. 3 eingreift – vgl. vorstehend Nr. 5 und 6 – ist, wie gezeigt, für die Anerkennung der in Betracht kommenden Völkerrechtsregeln eine Willenserklärung des Gesetzgebers erforderlich und ausreichend. Und zwar genügt grundsätzlich ein e i n f a c h e s Gesetz. Ein verfassungsänderndes wäre nur dann notwendig, wenn der anzuerkennende Völkerrechtssatz einer zwingenden Vorschrift der RVerf wiederspricht. Notwendig ist die Gesetzesform für die deutsche Anerkennung von Völkerrechtsnormen nur im Hinblick und nach Maßgabe des Art. 45 Abs. 3. Hiermit ist selbstverständlich nicht gesagt, daß die Gesetzesform nicht auch in anderen Fällen, auf die Art. 45 Abs. 3 sich nicht bezieht – Anerkennung von Völkerrechtsnormen, die auf G e w o h n h e i t beruhen – Anwendung finden könne. Der Weg der Gesetzgebung ist für die Anerkennung, auch soweit er nicht – sei es wegen Art. 45 Abs. 3, sei es aus einem anderen Grunde – e r f o r d e r l i c h ist, in jedem Falle a u s r e i c h e n d. So ist beispielsweise die Exterritorialität der bei einem Staat beglaubigten Gesandten im Gebiete dieses Staates ein Institut des Völker g e w o h n h e i t s rechts. Dieses auch sonst allgemein anerkannte Rechtsinstitut hat das Deutsche Reich seinerseits anerkannt, indem es konforme Gesetzesvorschriften (vgl. z. B. BGB §§ 18, 19, Einkommensteuergesetz v. 10. August 1925, § 5) erließ. Andere Völkergewohnheitsrechtsnormen, wie etwa die Exterritorialität fremder, in Deutschland sich aufhaltender Staatsoberhäupter, sind zur Zeit noch nicht in dieser Weise, durch ausdrückliche Willenserklärung des Gesetzgebers, anerkannt; es muß infolgedessen, falls ihre innerstaatliche Geltung in Deutschland behauptet wird, ungtersucht werden, ob sie sonstwie, stillschweigend, anerkannt wird (s. o. Nr. 5).
Geht man, wie hier geschieht, davon aus, daß die Anerkennung einer Völkerrechtsnorm seitens des Deutschen Reichs ein Willensakt ist, der nicht ergehen m u ß, sonder nur ergehen k a n n, daß sie, anders gewendet, keine heteronome (einem Fremdgebiet gehorchende) Unterwerfung, sondern eine autonome (freiwillige) Selbstbindung darstellt, – nimmt man ferner an, daß Art. 4, unbeschadet seiner Völkerrechtsverbindlichkeit, keineswegs den Primat des Völkerrechts gegenüber dem "Landesrecht" (innerstaatlichen Recht) proklamiert, m. a. W. die Souveränität des Deutschen Reichs nicht verneint, sondern voraussetzt und aufrechterhält, so wird man auch zugestehen müssen, daß die Anerkennung, frei wie sie erteilt wurde, so auch frei w i d e r r u f l i c h ist. Es folgt aus dem Wesen des souveränen Staates, daß er rechtlich nicht verpflichtet ist, anderwärts anerkannte Völkerrechgtsnormen auch seinerseits anzuerkennen. Die Tatsache, daß andere Staaten eine Regel des Völkerrechts als bestehend anerkennen, zwingt uns nicht, unsere Anerkennung hinzuzufügen, sie verbietet uns auch nicht, die Anerkennung, falls unsererseits erteilt, nach Lage von Zeit und Umständen zurückzunehmen, und es fragt sich dann noch, ob die Zurücknahme als solche, in jedem Falle (insbesondere dann, wenn die zurückzunehmende Anerkennung durch e i n f a c h e s Gesetz erfolgen konnte und erfolgte) ein v e r f a s s u n g s ä n d e r n d e s Gesetz, Art. 76, erfordert. Dies ist gegen Schmitt (Zeitschr. f. badische Verw. 1921 S. 201, Kirchliche Selbstverwaltung S. 14) und Walz (a. a. D. S. 146ff., 150, 151) zu v e r n e i n e n. Wenn Schmitt (a. a. D. S. 201) sagt, "die Anerkennung einer Völkerrechtsregel oder die Verweigerung der Anerkennung bedarf selb stverständlich nicht der verfassungsändernden Form, wohl aber die nachträgliche Zurücknahme einer früheren bindenden Anerkennung", – so ist der Vordersatz dieser These sicher richtig, der Nachsatz aber unrichtig.
Das gleiche gilt von dem weiteren Satze Schmitts, der deutsche Gesetzgeber sei nicht gehindert, die Anerkennung zurückzunehmen, "aber die Anerkennung, die einmal erfolgt ist, hat die Wirkung, daß die Zurückziehung innerstaatlich erschwert wird. Sie muß in den Formen der Verfassungsänderung erfolgen." Auch hier ist der Vordersatz zutreffend, der Nachsatz dagegen nicht. Die Ausführungen von Walz a. a. D. S. 148ff. vermögen die Schmittsche Ansicht (die nach Walz "bedingungslos unterschrieben" werden kann und von ihm eingehend und selbständig begründet wird) nicht zu stützen. Es ist nicht einzusehen, warum für den W i d e r r u f der Anerkennung – sofern man ihn überhaupt für zulässig hält (und sowohl Schmitt wie Walz halten ihn, mit Recht, für zulässig) – andere staatsrechtliche Formen erforderlich sein sollen als für die E r t e i l u n g der Anerkennung. Das Verfassungsänderungsverfahren ist nur dann notwendig, wenn Vorschriften der RVerf aufgehoben, abgeändert oder für den Einzelfall außer Kraft gesetzt werden sollen. Um keinen dieser Fälle handelt es sich hier. Insbesondere bedeutet die Zurücknahme der deutschen Anerkennung kein Zuwiderhandeln gegen die Norm des Art. 4, das durch ihre Außerkraftsetzung für den betreffenden Fall gerechtfertigt werden müßte. Art. 4 gebietet, daß die von den andern und von uns anerkannten Regeln des Völkerrechts ohne weiteres innerstaatlich, als deutsches Reichsrecht, gelten sollen. Darüber, welche Regeln gegenwärtig hierher gehören, wie und von wen die deutsche Anerkennung zu erteilen ist, ob und von wem sie nach Erteilung wieder zurückgenommen werden kann, bestimmt er schlechthin nichts. Er stellt es dem Gesetzgeber anheim, durch einfaches Gesetz, unter Berücksichtigung aller einschlägigen Interessen des Reichs, nach Ermessen darüber zu befinden, ob eine anderwärts in Anerkennung stehende Völkerrechtsnorm auch deutscherseits anzuerkennen, nicht anzuerkennen oder n i c h t m e h r anzuerkennen ist. Sein Sinn ist der, daß die anderwärts anerkannten Völkerrechtsnormen bei uns innerstaatlich gelten, soweit u n d s o l a n g e sie auch von uns anerkannt sind. Es liegt nicht in diesem Sinne, die Zurücknahme der deutschen Anerkennung durch Bindung an die Formen der Verfassungsänderung innerstaatlich zu erschweren. Der gegenteiligen Ansicht von Schmitt und Walz kann nach alledem nicht beigetreten werden.
8. Unter den vorstehend – Nr. 4–7 – besprochenen Voraussetzugnen "g e l t e n die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts a l s b i n d e n d e B e s t a n d t e i l e d e s d e u t s c h e n R e i c h t s r e c h t s". Das "gelten … als" bedeutet volle Gleichstellung der Völkerrechtsnorm mit einem (einfachen, in der Regel nicht verfassungsändernden, s. o. Nr. 7) Reichsgesetz. Die allgemein und auch vom Deutschen Reich, sei es ausdrücklich, sei es stillschweigend, sei es durch eine gesetzgeberische (s. o. Nr. 5–7) oder eine andere zulässige Willenserklärung anerkannte Völkerrechtsnorm ist von allan, die sie angeht, Staatsorganen und Untertanen, wie ein Reichsgesetz zu befolgen und zu behandeln, insbesondere auch von den Gerichten. Sie gilt innerstaatlich, das ist der Sinn des Wortes "bindend" ("b i n d e n d e Bestandteile …")1). Sie hat die Kraft eines Reichsgesetzes, keine größere, auch keine geringere. Keine größere: sie ist nicht etwa, als Völkerrechtssatz, im Verhältnis zum deutschen Reichsrecht eine Norm höheren Ranges; Völkerrecht bricht an sich und als solches nicht Reichsrecht. Keine geringere: die allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts geht den deutschen Landesgesetzen vor, sie "bricht Landrecht" (Art. 13 Abs. 1), wie ein Reichsgesetz. Und sie geht auch dem mit ihr inhaltlich kollidierenden R e i c h s gesetz vor, aber nur, wenn und soweit sie ihm gegenüber das spätere Gesetz, die lex posterio ist. Ob sie das ist, entscheidet sich nicht nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung (z. B. dem Tage des Abschlusses der sie schaffenden Staatenvereinbarung), sondern nach dem ihrer Anerkennung seitens des Reichs.
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1) Die Hinzufügung von "bindende" zu "Bestandteile" ist bedeutungslos. Mit Recht sagt Walz a. a. D. S. 150: "es gibt kein anderes positives Recht als bindendes. Dieses epitheton ornans hätte man sich ruhig sparen können." – In dem unserem Art. 4 entsprechenden Art. 9 des ö s t e r r e i c h i s c h e n Bundesverfassungsgesetzes heißt es: "Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als Bestandteile des Bundesrechts." Es fehlt also das Wort "bindende". Der Sinn ist aber genau der gleiche wie der des Art. 4 RVerf.
Auszug aus dem Kommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 von Gerhard Anschütz aus dem Jahr 1930 – bezüglich Art. 178:
Art. 178. Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 und das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 sind aufgehoben.
Die übrigen Gesetze und Verordnungen des Reichs bleiben in Kraft, soweit ihnen diese Verfassung nicht entgegensteht. Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichneten Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt. Mit Rücksicht auf die Verhandlungen bei dem Erwerbe der Insel Helgoland kann zugunsten ihrer einheimischen Bevölkerung eine von Art. 17 Abs. 2 abweichende Regelung getroffen werden.
Anordnungen der Behörden, die auf Grund bisheriger Gewsetze in rechtsgültiger Weise getroffen waren, behalten ihre Gültigkeit bis zur Aufhebung im Wege anderweiter Anordnung oder Gesetzgebung.
L i t e r a t u r: Poetzsch-Heffter, Giese zu Art. 178; Wittmeyer S. 19 ff.; Stier-Somlo 1 S. 30 ff., 156 ff., 300, 658. Insbesondere zu Abs. 2 Satz 2: Fleischmann, Die Einwirkung auswärtiger Gewalten auf die RVerf (1925), S. 24; Carl Schmitt, BL S. 72; Pohl, RVerf u. Versailler Vertrag (1927).
1. Abs. 1 hat, was die RVerf vom 16. April 1871 betrifft, insofern nur deklarative Bedeutung, als die RVerf vom 16. April 1871 schon durch die Revolution – aber nicht als Ganzes und im ganzen, sondern nur, soweit sie der Revolution im Wege stand: vgl. oben S. 4 und Anm. 6 – außer Kraft gesetzt worden war.
2. Abs. 2 Satz 1. Zu beachten ist, daß der Text hier nicht sagt: Die Gesetze und Verordnungen des f r ü h e r e n oder des b i s h e r i g e n Reichs, sondern: "des Reichs". Er bekennt sich damit unzweideutig zu dem Gedanken, daß Revolution und RatVerf kein neues Reich geschaffen, sondern nur dem bestehenden eine neue Verfassung gegeben haben. Hierin darf eine weitere Bestätigung der oben, Einleitung S. 2, 8 ff., und Nr. 5 zu den einleitenden Worten der Verf (S. 31, 32), vorgetragenen Ansicht erblickt werden.
Quelle: Anschütz, G. (1930): Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. – Dritte Bearbeitung, 13. Auflage (36. und 37. Tausend), Stilkes Rechtsbibliothek. – Verlag Georg Stilke in Berlin.