Ein Staat ohne Legitimation

EU-Kommission will Nationalstaaten abschaffen

Ein Staat ohne Legitimation

von Prof. Dr. jur. Karl Albrecht Schacht­schnei­der

Nach einem hal­ben Jahr­hun­dert euro­päi­scher Inte­gra­ti­on hat Deutsch­land gänz­lich ande­re poli­ti­sche Struk­tu­ren, als sie das Grund­ge­setz ver­fasst hat. Die Repu­blik ist kei­ne Demo­kra­tie im frei­heit­li­chen Sin­ne mehr. Sie ist kein Rechts­staat mehr, in dem durch Gewal­ten­tei­lung und Rechts­schutz die Grund­rech­te gesi­chert sind. Sie ist kein Sozi­al­staat mehr, son­dern unselbst­stän­di­ger Teil einer Regi­on des glo­ba­len Kapi­ta­lis­mus. Sie ist auch kein Bun­des­staat mehr, weil Bund und Län­der ihre exi­sten­zi­el­le Staat­lich­keit ein­ge­büßt haben. Die Struk­tur­prin­zi­pi­en des Grund­ge­set­zes, wel­che die Inte­gra­ti­on in die Euro­päi­sche Uni­on nach des­sen Arti­kel 23 Absatz 1 respek­tie­ren muss, sind ent­wer­tet. In einer sol­chen Uni­on darf Deutsch­land nach sei­ner Ver­fas­sung nicht Mit­glied sein. 

Demo­kra­tie ist die poli­ti­sche Form der all­ge­mei­nen Frei­heit. Die Geset­ze müs­sen der Wil­le aller Bür­ger sein. Wenn sie nicht das Volk unmit­tel­bar durch Abstim­mun­gen beschließt, müs­sen sie im Par­la­ment (ein­ge­bet­tet in den öffent­li­chen Dis­kurs) bera­ten und beschlos­sen wer­den. Die mei­sten Rechts­sät­ze, die in Deutsch­land gel­ten, sind aber von den exe­ku­ti­ven Orga­nen der Uni­on als Richt­li­ni­en und Ver­ord­nun­gen beschlos­sen wor­den, ins­be­son­de­re im Wirt­schafts­recht. Das Euro­päi­sche Par­la­ment hat nur begrenz­ten Ein­fluss auf die­se Recht­set­zung, vor allem aber ist es kein wirk­li­ches Par­la­ment, das die demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on auch nur stär­ken könn­te. Das Stimm­ge­wicht sei­ner Wäh­ler weicht krass von­ein­an­der ab. Die Recht­set­zung der Uni­on kann nicht von den natio­na­len Par­la­men­ten ver­ant­wor­tet wer­den, um dem demo­kra­ti­schen Prin­zip zu genü­gen; denn deren Abge­ord­ne­te kön­nen die Uni­ons­po­li­tik schlech­ter­dings nicht vor­aus­se­hen. Das demo­kra­ti­sche Defi­zit der Recht­set­zung der Uni­on ist nicht behebbar. 

Die Uni­on hat, wie alle zen­tra­li­sti­schen Büro­kra­tien, ihre Befug­nis­se auf alle wirt­schaft­lich wich­ti­gen Berei­che aus­ge­dehnt, viel­fach ent­ge­gen dem Text der Ver­trä­ge. Das ist vor allem das Werk der Kom­mis­si­on und des Euro­päi­schen Gerichts­hofs, wel­che die Ver­trä­ge nicht etwa eng, wie es das Sub­si­dia­ri­täts­prin­zip gebie­tet, hand­ha­ben, son­dern denk­bar weit, oft ohne Rück­sicht auf den Wort­laut, aber im Inter­es­se der Inte­gra­ti­on. Ver­schie­dent­lich haben die Mit­glieds­staa­ten, die "Her­ren der Ver­trä­ge", Tex­te nach­ge­reicht, um den "gemein­schaft­li­chen Besitz­stand" zu festigen. 

Die Judi­ka­tur der unmit­tel­ba­ren Anwend­bar­keit der Grund- oder Markt­frei­hei­ten hat die an sich völ­ker­recht­li­chen Pflich­ten der Mit­glieds­staa­ten zu sub­jek­ti­ven Rech­ten der Unter­neh­men gewan­delt, gewis­ser­ma­ßen zu Grund­rech­ten. Das hat die Gemein­schaft der Sache nach schon 1963 zum Staat gemacht, ein Staat frei­lich ohne legi­ti­mie­ren­des Staats­volk. Die Mit­glieds­staa­ten haben sich gegen die­sen Umsturz nicht gewehrt, auch nicht deren Gerich­te. Seit­her ist der mäch­tig­ste poli­ti­sche Akteur der Euro­päi­sche Gerichts­hof. Sein Leit­be­griff ist das Gemein­schafts­in­ter­es­se. Die Mit­glieds­staa­ten kön­nen ihre Inter­es­sen nur behaup­ten, wenn der Gerichts­hof die­se als zwin­gend aner­kennt. Das tut er fast nie. Die­se Judi­ka­tur hat die weit­rei­chen­de Dere­gu­lie­rung erzwun­gen, auch der Daseins­vor­sor­ge (Ener­gie usw.). Der Wett­be­werb soll Effi­zi­enz und Wohl­stand stei­gern, wird aber von der Kom­mis­si­on ohne rechts­staats­ge­mä­ßen Maß­stab, meist im Kapi­tal­in­ter­es­se admi­ni­striert. Markt­mäch­ti­ge Oli­go­po­le sol­len welt­weit wett­be­werbs­fä­hig sein. Das Sozi­al­prin­zip hat kei­ne Ent­fal­tungs­chan­ce mehr. Die Gerech­tig­keit soll aus­ge­rech­net der Markt her­stel­len – ohne sozia­le Ord­nung ein glo­ba­les Ausbeutungsszenario. 

Das Her­kunfts­land­prin­zip, vom Gerichts­hof ent­ge­gen dem Ver­trag ent­wickelt, ist ein wesent­li­cher Hebel der Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung und Ent­mach­tung der Völ­ker. Die Geset­ze aller Mit­glieds­staa­ten ent­fal­ten in allen Mit­glieds­staa­ten Gel­tung und Wir­kung, im Lebens­mit­tel­recht, im Arbeits­recht, im Gesell­schafts­recht usw. Die Völ­ker kön­nen ihre Poli­tik nicht mehr durch­set­zen, viel­mehr müs­sen sie ihre Stan­dards nach unten anpas­sen, um die Wett­be­werbs­fä­hig­keit zu wah­ren. Die Hand­ha­bung der Nie­der­las­sungs­frei­heit etwa macht es mög­lich, der deut­schen Unter­neh­mens­mit­be­stim­mung auszuweichen. 

Der Gerichts­hof hat die aus­schließ­li­che Zustän­dig­keit der Gemein­schaft dekre­tiert, Abkom­men mit drit­ten Staa­ten über den Han­del mit Waren und Dienst­lei­stun­gen zu schlie­ßen. Nach dem Ver­trag soll­te die Gemein­schaft ledig­lich "ein­heit­li­che Grund­sät­ze" der "gemein­sa­men Han­dels­po­li­tik" gestal­ten. Die Fol­gen sind ver­hee­rend. Han­dels­po­li­tik kann nicht allein dem Frei­han­del oder allein der Pro­tek­ti­on ver­pflich­tet sein. Sie muss der Lage einer Volks­wirt­schaft gerecht werden. 

Deutsch­land sei »seit dem 8. Mai 1945 zu kei­nem Zeit­punkt mehr voll sou­ve­rän gewe­sen«, bekun­de­te Wolf­gang Schäub­le, Bun­des­mi­ni­ster der Finan­zen, vor den ver­sam­mel­ten Ban­kern des Euro­päi­schen Ban­ken­kon­gres­ses am 18. Novem­ber 2011. Das war gera­de­zu eine Ver­beu­gung des Staa­tes vor dem neu­en Sou­ve­rän des ent­grenz­ten Kapi­ta­lis­mus. In »Euro­pa« sei die Sou­ve­rä­ni­tät ohne­hin »längst ad absur­dum« geführt.
Wenn Deutsch­land aber nicht sou­ve­rän ist, dann herrscht ein ande­rer Staat oder eine Staa­ten­ge­mein­schaft oder eine Per­son oder Per­so­nen­grup­pe, irgend­ei­ne Macht, über Deutsch­land und Wolf­gang Schäub­le ist des­sen bzw. deren Agent und nicht Ver­tre­ter des Deut­schen Vol­kes. Viel­mehr dient er frem­den Inter­es­sen. Das lässt sich nicht mehr kaschieren.

Die Zustän­dig­keits­po­li­tik der Uni­on macht die Völ­ker gegen­über der Glo­ba­li­sie­rung wehr­los. Hin­zu kommt die gren­zen­lo­se Kapi­tal­ver­kehrs­frei­heit, wel­che seit 1994 gilt. Sie ermög­licht im Ver­bund mit den Ver­trä­gen der Welt­han­dels­ord­nung den rück­sichts­lo­sen Stand­ort­wech­sel der Unter­neh­men in Bil­lig­lohn­re­gio­nen und damit den Ver­lust von Arbeits­plät­zen und des erwirt­schaf­te­ten Kapi­tals, das woan­ders inve­stiert wird. 

Die wett­be­werbs­ver­zer­ren­de Wäh­rungs­uni­on nimmt zudem den Euro­län­dern die Hoheit über die Auf- oder Abwer­tung ihres Gel­des, durch wel­che sie sich lei­stungs­ge­recht am Bin­nen- und am Welt­markt behaup­ten könn­ten. Im Übri­gen lei­stet Deutsch­land erheb­li­chen finan­zi­el­len Trans­fer in die Euro­in­fla­ti­ons­län­der, denen wie­der­um durch die not­wen­dig undif­fe­ren­zier­te Wäh­rungs­po­li­tik der Euro­päi­schen Zen­tral­bank die Wett­be­werbs­fä­hig­keit ver­lo­ren geht. 

Die Gewal­ten­tei­lung, wel­che gegen die über­mä­ßi­ge Macht­ent­fal­tung der Exe­ku­ti­ve gerich­tet ist, ist im Uni­ons­staat nicht ver­fasst, wenn­gleich der Viel­heit der Mit­glieds­staa­ten gewis­se macht­hem­men­de Wir­kun­gen nicht abge­spro­chen wer­den kön­nen. Die eigent­li­che Macht haben außer den Staats- und Regie­rungs­chefs die Kom­mis­si­on und der Gerichts­hof, bei­de ohne demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on. Im Gerichts­hof judi­zie­ren Rich­ter, von denen allen­falls einer eine mehr als schma­le Legi­ti­ma­ti­on aus sei­nem Land hat. Die­se mäch­ti­gen und hoch bezahl­ten Rich­ter wer­den aus­ge­rech­net im Ein­ver­neh­men der Regie­run­gen ernannt, auch nur für sechs Jah­re, aber mit der Mög­lich­keit der Wie­der­er­nen­nung. Das schafft kei­ne Unab­hän­gig­keit. Einen grö­ße­ren Tort kann man dem Rechts­staat kaum antun, zumal die­se Rich­ter alle recht­li­chen Grund­satz­fra­gen für etwa 500 Mil­lio­nen Men­schen ent­schei­den. Der Grund­rech­te­schutz lei­det schwe­re Not, seit­dem die Gemein­schafts­ord­nung unser Leben wei­test­ge­hend bestimmt. Seit sei­nem Bestehen hat der Gerichts­hof, der, gedrängt vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, die Grund­rech­te­ver­ant­wor­tung an sich gezo­gen hat, nicht ein ein­zi­ges Mal einen Rechts­satz der Gemein­schaft als grund­rechts­wid­rig erkannt. 

Der Ver­fas­sungs­ver­trag, der in Frank­reich und in den Nie­der­lan­den geschei­tert ist, den die Bun­des­kanz­le­rin als Rats­prä­si­den­tin aber wie­der bele­ben will, hat den Wech­sel der Uni­on von der völ­ker­recht­li­chen Orga­ni­sa­ti­on, dem Staa­ten­ver­bund, zum Bun­des­staat mit fast allen exi­sten­zi­el­len Staats­be­fug­nis­sen auch text­lich voll­zo­gen. Er benutzt die Spra­che des Staats­rechts, nicht mehr die des Völ­ker­rechts. Frei­lich wird die demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on, die nur ein exi­sten­zi­el­ler Staat, näm­lich ein Staats­volk, einer sol­chen Staats­ge­walt geben könn­te, nicht gestärkt, weil es das Volk "Euro­pas" nicht gibt. Ohne Refe­ren­den aller betei­lig­ten Völ­ker kann ein euro­päi­sches Volk nicht ent­ste­hen. Die­se Refe­ren­den aber fürch­tet die "Éli­te" der Par­tei­po­li­ti­ker, wel­che die Uni­on führt, mehr denn je. Der Ver­trag hat die Kom­pe­tenz-Kom­pe­ten­zen der Uni­on noch über die gel­ten­den Gene­ral­klau­seln hin­aus aus­ge­wei­tet. Die Staats- und Regie­rungs­chefs kön­nen gar im ver­ein­fach­ten Ände­rungs­ver­fah­ren durch Euro­päi­schen Beschluss die Ver­fas­sung der "inter­nen Poli­tik­be­rei­che" ganz oder zum Teil ändern, ohne dass der Bun­des­tag und der Bun­des­rat zustim­men müss­ten. Betrof­fen wären die gesam­te Wirtschafts‑, Wäh­rungs- und Sozi­al­po­li­tik, aber auch der "Raum der Frei­heit, der Sicher­heit und des Rechts". Das ist der Ver­such eines neu­en Ermäch­ti­gungs­ge­set­zes. Dass der Ver­trag "in Kriegs­zei­ten oder bei unmit­tel­ba­rer Kriegs­ge­fahr", aber auch, um "einen Auf­ruhr oder einen Auf­stand recht­mä­ßig nie­der­zu­schla­gen", die Todes­stra­fe wie­der ermög­licht, ist kaum bekannt. Sonst hät­ten unse­re Abge­ord­ne­ten sicher nicht mit Begei­ste­rung zugestimmt. 

Wer das Recht ver­tei­di­gen will, muss aus der Uni­on aus­schei­den. Das gäbe die Chan­ce, durch neue Ver­ein­ba­run­gen eine Rechts­ge­mein­schaft zu begrün­den, ein euro­päi­sches Europa.

Quel­le: https://www.kaschachtschneider.de

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