Die digitale Justiz in Form von elektronischem Rechtsverkehr mittels sogenannter Gerichtssoftware ist nicht beherrschbar. Dies dokumentiert der "IT-Unfall" am Berliner Kammergericht vom 25. September 2019 einschlägig. Immer neue Sicherheitslücken werden offenbar. Der Kammergerichtspräsident verwickelt sich in Widersprüchlichkeiten. Damit ist die Justiz nicht nur am Abgrund – sie bereits gefallen.
Die IT-Stelle des Kammergerichts hatte am 25. September 2019 von dem IT-Dienstleistungszentrum ITDZ, welches nach eigenen Angaben als kommunales Unternehmen für die Digitalisierung Berlins verantwortlich ist, Hinweise auf einen Trojaner-Angriff erhalten.
In der Pressemitteilung des Berliner Kammergerichts vom 07.10.2019 behauptet der Kammergerichtspräsident Dr. Pickel, daß bereits am 25. September 2019 "die Verbindung zwischen dem Kammergericht und dem Internet über das Berliner Landesnetz" getrennt wurde.
Laut ITDZ fand der Lockdown des Kammergerichts jedoch erst am 27. September 2019 und erst nach Rücksprache mit der Senatsverwaltung des Innern statt.
Wer ist verantwortlich?
Es stellt sich hier die Frage nach der Unabhängigkeit der Gerichte. Warum muß das Kammergericht zuerst mit der Senatsverwaltung Rücksprache halten, um die Computer vom Netz zu nehmen, wenn Gefahr im Verzug ist? Ist der Präsident des Kammergerichts nicht der Hausherr des Kammergerichts und damit verantwortlich für die Sicherheit in seinem Hause?
Ach nein, wir erinnern uns, verantwortlich für die Digitalisierung Berlins ist ja das ITDZ, und das, obwohl das Kammergericht beim ITDZ nicht einmal Kunde ist. Sämtliche anderen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit mit derzeit 5.686 PC-Arbeitsplätzen sind Kunden des ITDZ, so der Tagesspiegel am 17.10.2019. Für sie ist eigentlich das Dezernat ITOG (Informationstechnik in der ordentlichen Gerichtsbarkeit) des Kammergerichts zuständig. Vom Kammergericht kommend, klopfte der Trojaner "Emotet" zuerst beim ITDZ an. Die Frage, warum das Kammergericht beim ITDZ nicht Kunde ist, ist bis heute nicht beantwortet.
Lt. Aussage eines ITDZ-Sprechers seien zunächst nur einzelne Rechner vom Netz genommen worden. Dies steht in krassem Widerspruch zu der Bekundung des Kammergerichtspräsidenten Dr. Pickel in seiner Presseerklärung vom 07.10.2019.
Ein Richter des Kammergerichts hatte nach eigener Aussage am Abend des 27. September E‑Mails vom Dienstprogramm des Kammergerichts versandt.
Wie ist das möglich, wenn das Programm angeblich bereits am 25. September 2019 vom Netz genommen worden war?
Indes gibt Dr. Pickel in der Pressemitteilung vom 17.10.2019 zu, daß zwischen der Trennung des Computersystems vom Internet und der Trennung des Kammergerichts vom Landesnetz zwei Tage liegen. Er gibt auch zu, daß die Trennung der Computersysteme vom Internet und vom Berliner Landesnetz auf Betreiben der Senatsverwaltung für Inneres, Datensicherheit und Sport erfolgt sind.
Und jetzt wird es richtig kurios
In der Pressemitteilung vom 17.10.2019 erklärt das Kammergericht, daß es nach § 23 AGGVG Richtern, Staatsanwälten, Amtsanwälten sowie Rechtspflegern grundsätzlich gestattet ist, eigene Geräte der Informations- und Kommunikationstechnik zu nutzen – also USB-Sticks, Laptops und dergleichen mehr.
Gleichwohl sei "vorsorglich" eine Untersagung der Benutzung von USB-Sticks und externen Speichermedien ausgesprochen worden, um zu verhindern, daß – und jetzt kommt's – infizierte Dateien aus dem Bereich des Kammergerichts auf private IT-Systeme übertragen werden.
Wie bitte? Ist der Schutz privater IT-Systeme vor Trojanern, die aus dem Kammergericht kommen, etwa wichtiger als der Schutz der Daten betroffener "Gerichts-Kunden"?
Angeblich sei die Infizierung des Computersystems beim Kammergericht nicht durch USB-Sticks o. ä. erfolgt.
Wie glaubwürdig diese Aussage nach den bisherigen Widersprüchlichkeiten noch ist, mag der geneigte Leser selbst entscheiden.
Datenschutz als oberstes Gebot beim Kammergericht?
Der leichtfertige Umgang mit personenbezogenen Daten und Akteninhalten durch Verwendung von USB-Sticks auf privaten Laptops, die Mitnahme von Gerichts- und Ermittlungsakten nach Hause, wo der Schutz vor unbefugtem Zugriff und vor Datenverlust nicht gewährleistet werden kann, stellt eine grobe Dienst- und Amtspflichtverletzung, die Veruntreuung von Daten und Datenmißbrauch dar.
Wenn der Berliner Datenschutzbeauftragte unter Hinweis auf die DSGVO und das Berliner Datenschutzgesetz beteuert, alles müsse technisch nachvollziehbar sein und die Daten müßten vor Verlust und der unbefugten Kenntnisnahme Dritter geschützt werden, so kann dies allenfalls als ein Beschwichtigungsversuch zur Beruhigung erregter Gemüter gewertet werden.
Auch die Beteuerung des Kammergerichtspräsidenten Dr. Pickel, daß die Gewährleistung der Sicherheit des IT-Systems und der gespeicherten Daten beim Kammergericht oberstes Gebot sei, ist wohl eher dem hilflosen Ausgeliefertsein der Judikative bezüglich der Handhabung des elektronischen Rechtsverkehrs und dem damit verbundenen unkundigen und unsachgemäßen Umgang mit computergestützter Gerichtsautomation geschuldet.
"Rückkehr ins Papierzeitalter"
Daß einige Richter ihre Schreibmaschine hervorgeholt hätten und man angesichts der gegenwärtigen Situation beim Kammergericht wieder zu Zettel und Stift greife – so der Tagesspiegel am 17.20.2019 -, wird von den betroffenen Justizmitarbeitern als "Rückfall in das Papierzeitalter" gesehen.
Dem ist entgegenzuhalten, daß der sogenannte Rückfall ins "Papierzeitalter" keineswegs die Rückkehr in die Steinzeit, sondern vielmehr die Rückkehr zum Recht bedeutet.
Der in diesem Zusammenhang vom Tagesspiegel am 17.10.2019 als Paradigmenwechsel für die Richterschaft bezeichnete Umstand für den Fall, daß gerichtliche Daten künftig nicht mehr per USB-Stick – wie bislang üblich – zwischen Dienst- und Privatrechner hin und her transportiert werden können sollten, ist trauriges Dokument für die offenkundige Weisungsgebundenheit der als unabhängig geltenden Richter.
Fazit: die rechtsprechende Gewalt hat sich selbst abgeschafft!
Die Justizorganisation erweckt mit dem Einsatz elektronischer Kommunikationstechnik den Rechtschein von Gerichtsbarkeit unter Bezugnahme auf eine tat-justizbeschäftigte Informations- und Beglaubigungstechnik – sub omni canone.
Tatsächlich wird mit der automatisierten Justiz-Kommunikation die in Art. 1 Bonner Grundgesetz geschützte Würde der Opfer der Justizorganisation mißachtet und dem Herrscher des Verfahrens der Status des Art. 92 GG und die Unabhängigkeitsgarantie des Art. 97 GG entzogen.
An die Stelle des ehemaligen Treuhänders für die Rechtsprechung lt. Art. 92 GG ist nunmehr der "richterliche Beschäftigte" in einer automatisierten Justizorganisation getreten – ohne grundgesetzlichen Auftrag.
- Wenn die Exekutive der Judikative vorschreibt, welche "Gerichtssoftware" für die Ausübung des "elektronischen Rechtsverkehrs" zum Einsatz kommt;
- wenn die Exekutive die Judikative dazu "ermuntert", sich bei der Erledigung ihrer Dienstgeschäfte an PEBB§Y-Vorgaben zu halten;
- wenn die Richterschaft es zuläßt, daß durch die Einführung und den Einsatz IT-gestützter Justiz-Kommunikation Datenmißbrauch und Datenveruntreuung an der Tagesordnung sind;
- wenn Richter dazu angehalten werden, rechtswidrig Akten mit hochsensiblen Daten mit nach Hause zu nehmen,
ist die Justiz nicht nur am Abgrund, sondern bereits einen Schritt weiter.
Indem sich die Richterschaft durch die tägliche Anwendung automatisierter Justiz-Kommunikation dem exekutiv veranlaßten Justiz-Terror gegen den Grundrechteträger unterworfen und somit ihre Unabhängigkeit endgültig ad acta gelegt hat, hat sich die rechtsprechende Gewalt selbst abgeschafft.
Das ist offenkundig!
Verwendete Quellen:
Pressemitteilung des Kammergerichts vom 07.10.2019
"Wie die Berliner Justiz Gesetze missachtet" – Artikel im Tagesspiegel vom 17.10.2019
Pressemitteilung des Kammergerichts vom 17.10.2019
Beitragsbild: J. Sendel – PICTUREBLIND